1. Von einem Geschädigten, der vom Arbeitsamt aufgrund seines Gesundheitszustandes für nicht mehr vermittlungsfähig gehalten wird, kann grundsätzlich keine weitere Eigeninitiative hinsichtlich der Aufnahme von Erwerbstätigkeit erwartet werden. Unter diesen Umständen besteht grundsätzlich auch keine weitere Darlegungslast dazu, was der Geschädigte unternommen hat, um einen angemessenen Arbeitsplatz zu erhalten (Bestätigung BGH, Urteil vom 9.10.1990 - VI ZR 291/89 - VersR 1991, 437, 438 Rn. 15 f.).
2. Verstößt der Geschädigte gegen die ihm obliegende Schadensminderungspflicht, weil er es unterlässt, einer ihm zumutbaren Erwerbstätigkeit nachzugehen, sind die erzielbaren (fiktiven) Einkünfte auf den Schaden anzurechnen. Eine quotenmäßige Anspruchskürzung kommt grundsätzlich nicht in Betracht (Festhalten an BGH, Urteil vom 21.9.2021 - VI ZR 91/19 - VersR 2021, 1583 Rn. 14).
Anmerkung
Der BGH hat sich in seiner Entscheidung vom 24.1.2023 - VI ZR 152/21 mit den Anforderungen, die an ein Mitverschulden durch Unterlassen zu stellen sind, auseinandergesetzt. In II. Instanz hatte das OLG Celle mit Urteil vom 7.4.2021 - 14 U 134/20 das Mitverschulden von Geschädigter und Rentenversicherungsträger noch bejaht, weil diese nach Einstellung der Arbeitsvermittlung durch das Arbeitsamt keine weiteren Anstrengungen unternahmen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen bzw. die berufliche Wiedereingliederung zu fördern. Die Annahme des jeweiligen Mitverschuldens hielt der BGH für rechtsfehlerhaft und hat die Sache zurückverwiesen.
Gegenstand des Verfahrens waren Regressforderungen des Rentenversicherungsträgers gegen den eintrittspflichtigen Kfz-Haftpflichtversicherer aus übergegangenem Recht (§§ 116, 119 SGB X). Bei dem Unfallschaden kam es zu erheblichen Verletzungen der Geschädigten, die ihren Arbeitsplatz verlor. Rentenversicherungsträger und Kfz-Haftpflichtversicherer holten unabhängig voneinander medizinische Gutachten ein. Beide Gutachten kamen zu dem Ergebnis, dass die Geschädigte, die zuvor als Bürokauffrau arbeitete, in Zukunft wieder eine sitzende Tätigkeit ausüben könnte. Festgestellt wurde eine generelle Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und 10 % im Beruf als Bürokauffrau. Unmittelbar nach den Begutachtungen ließ das Arbeitsamt die Geschädigte selbst medizinisch untersuchen, stufte sie als nicht mehr vermittlungsfähig ein und nahm sie anschließend aus der Arbeitsvermittlung.
Der Rentenversicherungsträger nahm den Kfz-Haftpflichtversicherer in Regress auf Ersatz seiner Aufwendungen (Erwerbsminderungsrente, Rehabilitationsmaßnahmen u.a.), ohne eigene Bemühungen anzustellen, die Geschädigte beruflich wiedereinzugliedern. Die Zahlung wurde vom Kfz-Haftpflichtversicherer unter Verweis auf die Verletzung der Schadenminderungsobliegenheit der Geschädigten und des Rentenversicherungsträgers abgelehnt. Der Versicherer war der Auffassung, dass der Rentenversicherungsträger und die Geschädigte aufgrund der beiden positiven Gutachten eine Berufstätigkeit hätten anstreben und zumindest Arbeitsversuche hätten unternehmen müssen. Der Rentenversicherungsträger müsse sich das Mitverschulden der Geschädigten zurechnen lassen und habe selbst gegen seine Obliegenheiten verstoßen, eine Wiedereingliederung zu fördern.
Der BGH nimmt an, dass trotz der festgestellten Teilarbeitsfähigkeit, die Entscheidung einer "fachkundigen" Stelle wie dem Arbeitsamt so gewichtig sei, dass aus Perspektive der geschädigten Person das weitere Bemühen um eine regelmäßige Tätigkeit aussichtslos erscheine und keine weiteren Anstrengungen unternommen werden müssten. Mit der gleichen Begründung verneint der Senat auch ein Mitverschulden des Rentenversicherungsträgers.
Die Entscheidung des BGH ist im Hinblick auf das Mitverschulden schwer nachvollziehbar. Von einer geschädigten Person und dem zuständigen Rentenversicherungsträger muss erwartet werden können, dass nach zwei positiven Gutachten zur Arbeitsfähigkeit wenigstens Arbeitsversuche unternommen bzw. solche gefördert werden. Die isolierte Entscheidung des Arbeitsamtes zur Vermittelbarkeit darf dann im Hinblick auf ein etwaiges Mitverschulden nicht zur vollständigen Entlastung führen. Der offensichtliche Widerspruch hätte durch Arbeitsversuche aufgeklärt werden müssen. Die Arbeitsfähigkeit ist nur ein Teilaspekt der Vermittlungsfähigkeit. Bei bestehender Arbeitsfähigkeit kann eine Vermittlungsunfähigkeit aus unfallfremden Ursachen bestehen. Allerdings kann günstig aus der Entscheidung abgeleitet werden, dass der BGH grundsätzlich ein Mitverschulden des Rentenversicherungsträgers wegen unterlassener Maßnahmen in Betracht zieht.
Hierzu erscheint demnächst noch eine ausführliche Urteilsanmerkung in der VersR.
Ansprechpartner
RA Immanuel Drewes, Köln
immanuel.drewes@bld.de
Anforderungen an die Eigeninitiative einer arbeitslosen Geschädigten und des zuständigen Rentenversicherungsträgers zur Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit (mit BLD-Anmerkung)
BGH, Urteil vom 24.1.2023 - VI ZR 152/21