Zum Begriff der Erstversorgung durch den Durchgangsarzt und zur Bedeutung der Eintragungen im Durchgangsarztbericht bei der Bestimmung der Passivlegitimation (Fortführung von Senatsurteil vom 29.11.2016 - VI ZR 208/15 - BGHZ 213, 120).
Anmerkung
Die Klägerin begehrt von der Beklagten materiellen und immateriellen Schadensersatz wegen Aufklärungs- und ärztlichen Behandlungsfehlern in deren Klinikum.
Am 20. Juni 2012 stürzte die Klägerin auf dem Schulhof. Sie kam am Spätnachmittag in Begleitung ihrer Mutter in die Klinik der Beklagten. Dort wurde die Diagnose einer distalen Unterarmfraktur rechts mit dorsaler Abkippung gestellt. Gegen 17.00 Uhr fand ein Aufklärungsgespräch zur geplanten operativen Knochenbruchbehandlung statt. Um ca. 20.00 Uhr wurde die Narkose eingeleitet, kurz danach mit der Operation begonnen. Die Klägerin wurde am Tag danach entlassen.
In dem Durchgangsarztbericht vom 20. Juni 2012, in dem u.a. als Durchgangsarzt der Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Beklagten aufgeführt ist, wird das Schulunfallereignis vom 20. Juni 2012 kurz geschildert„… ausgerutscht und auf den re. Unterarm gefallen“ – und auf 15.20 Uhr datiert. Weiter ist darin u. a. ausgeführt:
„8. Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt)
Geschlossene Reposition und K-Draht am 20.6.2012
12. Art der Heilbehandlung durch mich Besondere Heilbehandlung stationär“.
Die Parteien stritten vor dem Landgericht insbesondere über die medizinische Indikation des Eingriffs, die Frage der vollständigen ärztlichen Aufklärung und etwaige Behandlungsfehler beim Eingriff, die gesundheitliche Beeinträchtigungen im Bereich des rechten Handgelenks hervorgerufen haben sollen. Das Landgericht hat nach der Beweisaufnahme die Klage abgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht mit Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO wegen fehlender Passivlegitimation der Beklagten zurückgewiesen. Das Oberlandesgericht führt zur Begründung aus, Im vorliegenden Fall sei bereits nach dem zeitlichen Ablauf offensichtlich, dass nach Eintreffen der Klägerin am späten Nachmittag durch die als Durchgangsarzt handelnden Ärzte innerhalb weniger Stunden die Diagnosestellung, die vorbereitenden Maßnahmen einschließlich des Aufklärungsgesprächs und im unmittelbaren Anschluss daran die Erstversorgung durch die streitgegenständliche Notoperation ohne jegliche Zäsur erfolgt sei. Die Ärzte hätten entschieden, welche Art der Behandlung erfolgen solle und auch die aus ihrer Sicht erforderliche notwendige Erstversorgung durchgeführt und seien damit der Verpflichtung als Durchgangsarzt, eine schnelle und sachgerechte Heilbehandlung zu gewährleisten, nachgekommen.
Der BGH verweist den Rechtsstreit zurück. Gegen eine Qualifikation der Operation als Maßnahme der Erstversorgung spricht entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bereits der Zeitablauf zwischen dem Eintreffen der Klägerin in der Notaufnahme der Beklagten und dem Beginn der Operation. Bereits der Zeitablauf weist darauf hin, dass es sich bei der Operation nicht um eine unaufschiebbare Maßnahme gehandelt hat. Eine objektive Eilbedürftigkeit, die den Durchgangsarzt zeitlich genötigt hätte, die Operation vor einer ausreichend vorbereiteten und überlegten Entscheidung über die Frage, ob eine allgemeine oder eine besondere Heilbehandlung erforderlich ist, vorzunehmen, bestand danach nicht.
Dass der Unfallversicherungsträger Hauptkostenträger der ärztlichen Behandlung war, ist für die Frage nach dem Umfang der Erstversorgung nicht von rechtlicher oder tatsächlicher Bedeutung. Dies ergibt sich unabhängig von der Frage nach der Art der Heilbehandlung und der Ausübung eines öffentlichen Amtes daraus, dass der Versicherte gegen den Unfallversicherungsträger bei Arbeits- bzw. Schulunfällen gem. § 26 SGB VII Anspruch auf Heilbehandlung hat und nach § 11 Abs. 5 SGB V kein Anspruch auf Leistungen gegen die Krankenversicherung besteht, wenn sie als Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen sind (vgl. nur Plagemann in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 11, Stand: 03.01.2024, Rn. 36 mwN).
Anderes ergibt sich auch nicht aus der Eintragung im Durchgangsarztbericht, die die Operation in dem Textfeld „Art der Erstversorgung (durch den D-Arzt)“ und in dem Textfeld „Art der Heilbehandlung“ lediglich „durch mich“ und „besondere Heilbehandlung“ „stationär“ ausweist.
Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 29. November 2016 (VI ZR 208/15, BGHZ 213, 120 Rn. 28) zwar darauf hingewiesen, dass die Dokumentation der Erstversorgung durch den Durchgangsarzt bei der Abgrenzung zwischen öffentlich-rechtlichem und privatrechtlichem Handeln helfen kann. Er hat weiter ausgeführt, dass der Durchgangsarzt mit der im Durchgangsarztbericht dokumentierten Entscheidung für die besondere Heilbehandlung die Zäsur zwischen seinen hoheitlichen Pflichten und dem anschließenden privatrechtlichen Behandlungsverhältnis schafft. Die wesentliche Entscheidung zur Erfüllung der Steuerungsfunktion des Durchgangsarztes ist gemäß § 27 Abs. 1 des Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger an dieser Schnittstelle angesiedelt, an der über die Durchführung einer allgemeinen Heilbehandlung, die Einleitung der besonderen Heilbehandlung oder die Ablehnung einer Heilbehandlung zu Lasten des Unfallversicherungsträgers zu entscheiden ist (vgl. Senatsurteil vom 10. März 2020 – VI ZR 281/19, MedR 2020, 1026 Rn. 22). Daran, dass der Durchgangsarztbericht Anhaltspunkte zur nachträglichen Ermittlung dieser Zäsur liefern kann, hält der Senat fest. Hier soll auch nicht der fachliche Entscheidungsprozess des Durchgangsarztes reguliert werden. Er soll im Rahmen des Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger alle Maßnahmen durchführen können, die zur Vorbereitung der Entscheidung über die Art der Heilbehandlung aus medizinischer Sicht notwendig sind, auch die Maßnahmen der Erstversorgung, die aus medizinischen Gründen sofort notwendig sind, um den Patienten während dieses Prozesses vor einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes zu bewahren, und er wird hier regelmäßig einen Ermessensspielraum im Fachlichen haben.
Das bedeutet aber nicht, dass der Zeitpunkt dieser Entscheidung und die Beantwortung der Frage, welche Maßnahmen noch der Vorbereitung der Entscheidung dienen und/oder noch der Erstversorgung zuzurechnen sind, zur freien Disposition des Durchgangsarztes stehen. Dies und die damit verbundene Entscheidung, wann die Ausübung seines öffentlichen Amtes endet, stehen nicht in seinem Belieben. Die zu treffende und dann dokumentierte Entscheidung muss sich vertretbar an den Kategorien Erstversorgung (§ 9 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger), allgemeine Heilbehandlung (§ 10 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger) und besondere Heilbehandlung (§ 12 Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger) orientieren. Eine mögliche Indizwirkung des Durchgangsarztberichtes für die Beantwortung der Frage, welche Maßnahmen noch im Vorbereitungsstadium erfolgten, entfällt, wenn die Zuordnung zu den aufgezeigten Kategorien beliebig oder willkürlich erscheint.
Gemessen daran erscheint im Streitfall die Zuordnung der Operation (und ihrer Aufklärungen) zur Erstversorgung trotz der Entscheidung für eine besondere Heilbehandlung stationär nicht mehr vertretbar. Der Durchgangsarzt hat im Entscheidungsprozess für die Weichenstellung zur Art der Heilbehandlung offenkundig den Begriff der Erstversorgung verkannt und ihm Maßnahmen zugeordnet, die zu der besonderen Heilbehandlung gehören und die sich hier faktisch bereits als Vollzug einer zuvor konkludent getroffenen, aber nicht offengelegten Entscheidung für die besondere Heilbehandlung darstellen. Dafür spricht auch, dass im Durchgangsarztbericht für die Klägerin als „Art der Erstversorgung (durch den Durchgangsarzt)“ „geschlossene Reposition und K-Draht-Fixierung“, aber bei „Art der Heilbehandlung“ „besondere Heilbehandlung stationär“ eingetragen bzw. im Formular angekreuzt ist. Diese Eintragungen sind widersprüchlich, da, wenn die Operation der Erstversorgung zuzuordnen wäre, keine besondere Heilbehandlung mehr erforderlich wäre.
Entgegen der Dokumentation im Durchgangsarztbericht sind deshalb die Operation der Klägerin und die zugehörigen Aufklärungen bereits der besonderen Heilbehandlung durch den Durchgangsarzt zuzuordnen und erfolgten nicht in Ausübung eines öffentlichen Amtes. Damit kommt eine persönliche Haftung der Beklagten grundsätzlich in Betracht.
Ansprechpartner
RA Dr. Thorsten Süß, Köln
thorsten.suess@bld.de
Begriff der Erstversorgung durch den Durchgangsarzt und Bedeutung der Eintragungen im Durchgangsarztbericht bei der Bestimmung der Passivlegitimation (mit BLD-Anmerkung)
BGH, Urteil vom 30.7.2024 - VI ZR 115/22