BGH, Urteil vom 9.7.2024 - VI ZR 252/23
Sozialrechtliche Anforderungen an das Abrechnungssystem zwischen Krankenhäusern und gesetzlichen Krankenkassen sowie sozialrechtliche Anforderungen an die Datenübermittlung, Prüfung von Rechnungen und Zahlungsverpflichtungen der Krankenkassen rechtfertigen keine Abweichung von den zivilrechtlichen Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast beim Regress des gesetzlichen Krankenversicherers des Unfallgeschädigten gegen den Schädiger nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X.
Anmerkung
Der BGH hat unter dem 9.7.2024 die Entscheidung des OLG Naumburg vom 6.7.2023 - 9 U 125/22 aufgehoben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Hierbei wurde zunächst festgehalten, dass der Sozialversicherungsträger keinen eigenen Anspruch geltend macht, sondern lediglich einen übergegangenen Anspruch des versicherten Geschädigten. In aller Deutlichkeit hat der BGH darauf hingewiesen, dass der Schaden, den der Schädiger zu ersetzen hat, nicht ohne weiteres mit der Vermögenseinbuße gleichzusetzen ist, die dem Sozialversicherungsträger durch seine eigene Leistungspflicht gegenüber seinem Versicherten entstanden ist. Der Anspruch des Versicherten geht nur auf den Sozialversicherungsträger über, soweit auch sachliche und zeitliche Kongruenz gegeben ist. Dabei knüpft der Forderungsübergang an die Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers und nicht an die tatsächlich erbrachte Leistung an. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut von § 116 SGB X „zu erbringen hat“. Der Anspruchsübergang auf den Sozialversicherungsträger wird daher durch den Umfang der Ansprüche begrenzt, die zunächst bei dem Versicherten entstanden sind. Zwischen der Leistungspflicht des Sozialversicherungsträgers gegenüber der versicherten Person einerseits und seinem Regressanspruch gegenüber einem Schädiger andererseits sei zu unterscheiden. Hieran ändert auch der frühe Zeitpunkt des Anspruchsübergangs (mit dem Unfall beziehungsweise in der logischen Sekunde nach dem Unfall) nichts. Den Sozialversicherungsträger treffen die gleichen Darlegungs- und Beweislasten, wie den Geschädigten selbst.
Zwar habe das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass der Gedanke, den Belangen des Sozialversicherungsträgers Rechnung zu tragen, die Rechtsprechung des BGH zum Zeitpunkt des Anspruchsübergangs auf den Sozialversicherungsträgers entscheidend beeinflusst hat (BGH VI ZR 329/10), jedoch sei es den Gerichten verwehrt, die Rechtsanwendung allgemein nach dem Schutzbedürfnis der Sozialversicherungsträgers auszurichten, selbst wenn sie dieses Schutzbedürfnis höher bewerten wollten, als den Schutz des Schuldners.
Der häufige Einwand der Bindungswirkung nach § 118 SGB X greife ebenfalls nicht durch. Die Bindungswirkung erstreckt sich auf den Tenor des Leistungsbescheides oder des Urteils und dessen tragende Feststellung, nicht aber auf die zivilrechtlichen Haftungsvoraussetzungen wie die Kausalität zwischen der Schädigungshandlung und dem eingetretenen Schaden. Die vom Sozialversicherungsträger geleistete Zahlung auf die Rechnungen der Behandlungseinrichtungen stehe einer unanfechtbaren Entscheidung eines Sozial- oder Verwaltungsgerichts nicht gleich. Zudem stand im Streitfall weder der Grund noch die Höhe der Leistungspflicht der Klägerin ihrem Versicherten gegenüber im Streit, sondern vielmehr der Schadensersatzanspruch des Versicherten, in dessen Rahmen die Klägerin nur Anspruch auf Ersatz der von ihr verauslagten Kosten für erfolgte medizinische Untersuchungen und Behandlungen hat, soweit diese im Sinne von §§ 249 Abs. 2 Satz 1 BGB auch erforderlich waren. Sozialrechtliche Anforderungen rechtfertigen keine Abweichungen von den zivilrechtlichen Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast. Die gegenteilige Ansicht hatte das OLG Naumburg auf die §§ 294 bis 303 SGB V und §§ 284 bis 293 SGB V gestützt. Ferner auf das eingeschränkte Prüfrecht des Sozialversicherungsträgers nach den §§ 275, 275 c SGB V. Diese regeln aber nicht das Verhältnis zum Schädiger im Rahmen der zivilrechtlichen Haftung. Sie können daher auch nicht als Grundlage herangezogen werden, um die Rechtsposition des Schädigers nach dem Forderungsübergang zu beschneiden. Anderenfalls werden die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschritten, wie der BGH nun klarstellt hat.
Die von den Behandlungseinrichtungen erstellten Abrechnungsdaten stellen entgegen der Annahme des OLG Naumburg kein starkes Indiz für die Erbringung oder die Erforderlichkeit der abgerechneten Leistungen dar. Dahingehend hatten sich bereits das OLG Stuttgart sowie das OLG Karlsruhe positioniert. Auch habe der Gesetzgeber mit § 294 a SGB V eine Norm geschaffen, mit der Krankenkassen Angaben zur Verfügung gestellt werden sollen, die sie benötigen, um auf sie übergegangene Ansprüche geltend machen zu können.
Eine ganz klare Absage hat der BGH auch der Auffassung erteilt, man könne das aus dem Sachschadenbereich bekannte Werkstatt- und Prognoserisiko auf den Personenschadenbereich übertragen. Geschädigter ist schließlich nicht der Sozialversicherungsträger, sondern dessen versicherter Geschädigter. Der Sozialversicherungsträger hat zunächst einmal die Behandlungskosten (unfallbedingt oder nicht) aufgrund der Leistungsverpflichtung dem Versicherten gegenüber nach § 11 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2, § 27 Abs. 1, § 39 SGB V zu tragen. Die Zahlungsverpflichtung des Sozialversicherungsträgers entsteht demnach unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V erforderlich ist. Die nach diesen sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen zu erbringende Leistung der Krankenkasse ist nicht zwingend deckungsgleich mit den im Sinne des § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB erforderlichen Heilbehandlungsmaßnahmen. Selbst wenn eine sachliche und zeitliche Kongruenz zwischen der Leistungspflicht der Krankenkasse und dem zu leistenden Schadensersatz besteht, bemisst sich beides nach unterschiedlichen Grundsätzen. Auch hat der Senat bereits entschieden, dass das Werkstattrisiko in Abtretungsfällen stets der Zessionar trägt, vgl. BGH VI ZR 239/22 sowie BGH VI ZR 38/22.
Der BGH hält fest, dass das OLG Naumburg der Verpflichtung des Tatrichters nicht nachgekommen ist, im Rahmen der Schadenermittlung nach § 287 ZPO den gesamten Parteivortrag zu würdigen und alle für die Beurteilung maßgeblichen Umstände zu berücksichtigen. Die Beklagte hat Einwendungen gegen die noch offenen Abrechnungspositionen vorgebracht, denen die Instanzgerichte hätten nachgehen müssen. Zu diesem Zweck wurde der Rechtsstreit zurückverwiesen. Die Einwendungen hat man - ohne nähere Prüfung - nicht als generell unbeachtlich ansehen dürfen.
Festzuhalten ist, dass der BGH – wie zu erwarten stand – daran festgehalten hat, dass die Legalzession nach § 116 SGB X nicht zu einer Veränderung der Darlegungs- und Beweislast führt. Die Grundsätze des Werkstattrisikos aus dem Sachschadenbereich sind auf den Regress des Sozialversicherungsträgers nicht übertragbar. Letztlich basierte die Entscheidung des OLG Naumburg ohnehin primär auf einer Einzelmeinung aus der Literatur (Prelinger VersR 2022, 1337 ff) und ließ sich mit der gängigen Rechtsprechung nicht in Einklang bringen.
Gleichwohl hatten sich zahlreiche Instanzgerichte der dogmatisch kaum nachvollziehbaren Auffassung des OLG Naumburg angeschlossen und ohne die erforderliche Beweisaufnahme unter Verweis auf eine Art „Krankenhausrisiko“ in Anlehnung an das Werkstattrisiko entschieden, was letztlich den bequemen Weg für die Gerichte darstellte. Durch die Entscheidung des BGH hat sich diese Problematik nun hoffentlich erledigt. Für alle Beteiligten sollte nunmehr klar sein, dass bei streitiger Schadenhöhe nicht ohne die erforderliche Beweisaufnahme – meist durch Sachverständigengutachten zur Höhe der unfallbedingten erforderlichen Behandlungskosten - entschieden werden kann.
Ansprechpartner
RA Armin Seiler, München
armin.seiler@bld.de
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Durch die Legalzession nach § 116 SGB X ändert sich die Darlegungs- und Beweislast nicht / Das Werkstattrisiko lässt sich nicht auf den Regress des Sozialversicherungsträgers übertragen (mit BLD-Anmerkung)
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