1. Ein Verkehrsteilnehmer, der sich verkehrsgemäß verhält, muss nicht mit einem pflichtwidrigen Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers rechnen. Etwas anderes kann dann gelten, wenn die sichtbare Beurteilung zu einer anderen Beurteilung führt.
2. Auf am Fahrbahnrand oder auf der - gesamten - Fahrbahn befindliche Fußgänger muss ein Kraftfahrer achten und sein Fahrverhalten hierauf einstellen.
Anmerkung
Der BGH befasst sich mit der Reichweite des Vertrauensgrundsatzes im Straßenverkehr bei Fußgängerunfällen, wobei die Grundsätze auch auf Fahrradfahrer und motorisierte Verkehrsteilnehmer übertragbar sind.
Im zu entscheidenden Fall war ein Fußgänger aus Sicht des Pkw-Fahrers von links über die Gegenspur kommend auf die Fahrbahn getreten. An der Mittellinie hatte er trotz Sicht auf den Pkw nicht angehalten und war vor oder gegen den Pkw gelaufen. Die Klage des Fußgängers auf Schadensersatz mit einer Quote von 50 % hatten die Vorinstanzen mit der Begründung abgewiesen, nach dem Vertrauensgrundsatz habe der Pkw-Fahrer nicht damit rechnen können, dass ein Fußgänger in die Fahrbahn laufen werde. Es wurde offengelassen, ob der Pkw-Fahrer vorher wahrgenommen hatte, dass der Fußgänger begonnen hatte, die Fahrbahn zu überqueren.
Der BGH hat der Revision stattgegeben und das Verfahren zurückverwiesen, da das Vertrauen auf rechtmäßiges Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers nur gerechtfertigt sei, wenn dieser sich zuvor unklar verhalten habe. Das KG müsse daher aufklären, ob der Pkw-Fahrer den querenden Fußgänger zuvor gesehen und Anlass gehabt habe, von einem Fehlverhalten auszugehen. Sollte der Pkw-Fahrer noch eine Reaktionsmöglichkeit gehabt haben, käme eine Mithaftung in Betracht.
Für die Regulierungspraxis ist das Urteil in mehrfacher Hinsicht wichtig. Zum einen hat der BGH nicht in Frage gestellt, dass bei grob fahrlässigem Verhalten die Haftung aus der Betriebsgefahr gegenüber einem nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer vollständig zurücktreten kann. Dies ist keine Selbstverständlichkeit, da das grob fahrlässige Verhalten nicht selten auf einer kurzen Aufmerksamkeitsstörung oder Abgelenktheit beruht. Des Weiteren ist bei solchen Konstellation zu beachten, dass der Sachverhalt zeitnah aufgeklärt wird, um noch frühzeitig ausfindig zu machen, ob das Verhalten des Fußgängers erkennbar so merkwürdig war, dass das Vertrauen in die Beachtung der Verkehrsregeln gestört war. Gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Personen besteht nach § 3 Abs. 2 STVO ohnehin nur ein eingeschränkter Vertrauensgrundsatz und sogar eine besondere Fürsorge. Kommt es zu einem Unfall mit einem nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer besteht zunächst immer eine Haftung aus der Betriebsgefahr. Zur Entlastung muss dann bewiesen werden, dass der nichtmotorisierte Fußgänger den Unfall (mit-)verschulet hat. Bei einer Fahrbahnüberquerung muss dann immer dargelegt und bewiesen werden, dass der Pkw beim Betreten der Fahrbahn sichtbar oder aber die Verkehrslage so gefährlich war, dass der Fußgänger gehalten gewesen wäre, einen nahe gelegenen Fußgängerübergang zu nutzen.
Die Entscheidung ist in NJW 2023, 2108 veröffentlicht.
Ansprechpartner
RA Heinz Otto Höher, Köln
heinz-otto.hoeher@bld.de
RA Oliver Kröger, Berlin
oliver.kroeger@bld.de
In Verbindung stehende Entscheidungen
KG, Beschluss vom 22.6.2023 - 22 U 51/22
Fußgängerunfall bei Überqueren einer zweispurigen Fahrbahn (mit BLD-Anmerkung)
BGH, Urteil vom 4.4.2023 - VI ZR 11/21