1. Die bindende Kraft rechtskräftiger Entscheidungen im Haftpflichtprozess ist auf Konstellationen beschränkt, in denen ein versicherungsrechtlicher Deckungsanspruch verfolgt wird und gilt dann nicht, wenn der Geschädigte den Haftpflichtversicherer seines Schädigers gemäß § 115 Abs. 1 VVG in Anspruch nimmt (BGH, Urteil vom 18.12.2012 – VI ZR 55/12).
2. Das bewusste Fernbleiben von der Baustelle durch einen mit der Baubetreuung beauftragten Architekten stellt eine Kardinalspflichtverletzung dar, die nach der Rechtsprechung des BGH eine wissentliche Pflichtverletzung indiziert.
Anmerkung
Ein Ehepaar beauftragte beim Neubau ihres Einfamilienhauses einen Architekten insbesondere mit den Leistungsphasen 5-9 HOAI, also von der Ausführungsplanung bis zur Objektüberwachung und -betreuung. Der Architekt erschien nur sporadisch auf der Baustelle und ließ sich dann trotz Mahnungen und Erinnerungen der Eheleute irgendwann gar nicht mehr blicken. Die Werkunternehmer genossen ihre Freiheit und erstellten in der Folge einen mangelhaften Bau. Daraufhin nahmen die Eheleute den Architekten vor dem LG Frankenthal auf Schadensersatz in Anspruch. Mangels Verteidigungsanzeige erging ein Versäumnisurteil. Der Kostenfeststellungsbeschluss konnte aber schon nicht mehr zugestellt werden. Der Architekt war „unbekannten Aufenthalts“, vulgo: verschwunden. Gestützt auf das mittlerweile rechtskräftige Versäumnisurteil ging das Ehepaar nun gegen den Vermögensschaden-Haftpflichtversicherer des Architekten vor und verklagte diesen gestützt auf § 115 VVG auf die bereits gegen den Architekten titulierten Beträge. Die Haftung des Architekten stünde aufgrund der Bindungswirkung des Versäumnisurteils fest; nachdem der Architekt nunmehr nicht zu greifen sei, müsse der Versicherer leisten.
Das LG Frankenthal wies die Klage ab. Die hiergegen gerichtete Berufung wies das OLG Brandenburg im Beschlusswege einstimmig zurück.
Den Kläger stünde zwar grundsätzlich ein Direktanspruch gegen den Versicherer aus § 115 Abs. 1 Nr. 3 zu, weil es sich bei der Berufshaftpflichtversicherung eines Architekten um eine pflichtige Versicherung handelt und der Aufenthalt des Architekten unbekannt ist. Indes hätten die Kläger aber weder einen Haftpflichtanspruch gegen den Architekten zur Überzeugung des Gerichts bringen können noch einen in das versicherte Risiko fallenden Schaden. Soweit die Eheleute in dem Verfahren schlicht und ohne weiteren Sachvortrag auf das Versäumnisurteil abgestellt hätten, ist dies ungenügend. Denn der althergebrachte Grundsatz, dass rechtskräftige Entscheidungen im Haftpflichtprozess, soweit sie identische Voraussetzungen betreffen, im späteren Deckungsprozess Bindungswirkung entfalten, gilt hier nicht. Die bindende Kraft ist auf Konstellationen beschränkt, in denen ein versicherungsrechtlicher Deckungsanspruch verfolgt wird und gilt dann nicht, wenn der Geschädigte den Haftpflichtversicherer seines Schädigers gemäß § 115 Abs. 1 VVG in Anspruch nimmt (BGH, Urteil vom 18.12.2012 – VI ZR 55/12).
Überdies wäre der Versicherer auf Basis des eigenen Sachvortrags der Kläger, den sich der Versicherer zu Eigen gemacht hatte, gemäß § 117 Abs. 3 VVG nicht zur Leistung verpflichtet. Das bewusste Fernbleiben von der Baustelle durch einen mit der Baubetreuung beauftragten Architekten stelle eine Kardinalspflichtverletzung dar, die nach der Rechtsprechung des BGH eine wissentliche Pflichtverletzung indiziert (BGH, Urteil vom 17.12.2014 – IV ZR 90/13). Umstände, die gegen eine Wissentlichkeit der Pflichtverletzungen des verschwundenen Architekten gesprochen hätten, haben die Eheleute nicht vorgetragen.
Der Entscheidung des OLG Brandenburg ist beizupflichten. Obgleich die vom Senat zitierte Entscheidung des BGH eine Direktklage aus Pflichtversicherungsgesetz (§ 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG) betraf, sind die dort angestellten Überlegungen auch auf die beiden anderen Fallgestaltungen des § 115 Abs. 1 VVG (Nr. 2 und Nr. 3) übertragbar. Es gibt im Rahmen der Direktklage gegen den Versicherer keinen Grund, den Geschädigten zusätzlich dadurch zu privilegieren, dass ein zuvor schon ergangenes Haftpflichturteil auch gegenüber dem Versicherer Bindungswirkung entfaltet. Ansonsten hätte auch die Regelung in § 124 VVG keinen Sinn. Nicht mehr beschäftigen musste sich der Senat damit mit der von der 1. Instanz näher beleuchteten Frage, ob und wann Versäumnisurteile ansonsten (also außerhalb der Direktklage) Bindungswirkung entfalten. Dies konnte das LG mit Recht verneinen, weil dem Versicherer keine Möglichkeit gegeben wurde, in den Haftpflichtprozess einzugreifen. Weder der Versicherungsnehmer noch die Eheleute hatten den Versicherer über die Klageerhebung informiert.
Ansprechpartner
RA Dr. Alexander Bulach, München
alexander.bulach@bld.de
Keine Bindungswirkung des Haftpflichturteils bei der Direktklage nach § 115 VVG (mit BLD-Anmerkung)
OLG Brandenburg, Beschluss vom 17.5.2023 - 11 U 144/22