1. Die Geltendmachung des Widerspruchsrechts nach § 5a VV a.F. kann auch unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des EuGH bei fehlender oder gravierend fehlerhafter Belehrung nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) aufgrund rechtsmissbräuchlichen Verhaltens ausscheiden, wenn besonders gravierende Umstände des Einzelfalls vorliegen, die vom Tatrichter festzustellen sind (Fortführung der st. Senatsrechtsprechung unter Ablehnung von OLG Rostock, Urteil vom 8.3.2022 - 4 U 51/21 und LG Erfurt VuR 2022, 146).
2. Die Anwendung der Grundsätze rechtsmissbräuchlichen Verhaltens auf ein "ewiges" Widerspruchsrecht nach § 5a VVG a.F. richtet sich alleine nach nationalem Recht und ist einer Vorlage an den EuGH nicht zugänglich (Ablehnung von VGH Rheinland-Pfalz VersR 2022, 1252).
Anmerkung
Mit seiner zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung (BGHZ) vorgesehenen Grundsatzentscheidung führt der IV. Zivilsenat des BGH seine bereits seit dem Jahr 2014 (VuR 2014, 467) bestehende Rechtsprechung zur Verwirkung in Rückabwicklungsfällen von Lebensversicherungsverträgen auch unter Berücksichtigung der jüngeren EuGH-Rechtsprechung (ausdrücklich nennt der Senat die Urteile vom 24.2.2022 - C-143/20 und C-213/20 und vom 9.9.2021 - C-33/20, C-155/20 und C-187/20) fort.
Demnach komme der Einwand von Treu und Glauben nach nationalem Recht weiterhin im Einzelfall zum Tragen, wobei der BGH im konkreten Fall auch seine Rechtsprechung zum Vorliegen insoweit erforderlicher gravierender Umstände des Einzelfalls bei im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Vertragsschluss erfolgter Sicherungsabtretung bestätigt (vgl. BGH, Beschluss vom 27.1.2016 – IV ZR 130/15).
Dabei betont der Senat unter Verweis auf sein in der ersten Jahreshälfte ergangenes Urteil vom 15.2.2023 - IV ZR 353/21, dass die Anwendung der Grundsätze über das rechtsmissbräuchliche Verhalten im Einzelfall dem nationalen Gericht obliegt und per se weder die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts noch den Sinn und Zweck des Widerspruchsrechts beeinträchtige.
Die besondere Bedeutung der aktuellen Entscheidung liegt zum einen in der Klarstellung, dass die Rechtsprechung des EuGH zum Einwand des Rechtsmissbrauchs bei einem Widerruf von Verbraucherkrediten (Urteil vom 9.9.2021 - C-33/20 u.a.) nicht auf das Widerspruchsrecht des Versicherungsnehmers nach § 5a VVG a.F. übertragen werden könne. Insoweit lehnt der Senat die unter Bezugnahme auf das EuGH-Urteil vertretene gegenteilige Auffassung des OLG Rostock, Urteil vom 8.3.2022 - 4 U 51/21 sowie des LG Erfurt VuR 2022, 146 ausdrücklich ab.
Zum anderen und vor allem stellt der BGH nunmehr in unmissverständlicher Deutlichkeit klar, dass sich die Anwendung der Grundsätze rechtsmissbräuchlichen Verhaltens auf ein "ewiges" Widerspruchsrecht nach § 5a VVG a.F. alleine nach nationalem Recht richtet und einer Vorlage an den EuGH nicht zugänglich ist (Ablehnung von VGH Rheinland-Pfalz VersR 2022, 1252). Für den Anwendungsbereich der nicht der Vollharmonisierung unterliegenden Lebensversicherungsrichtlinien habe der EuGH nämlich festgestellt, dass die Mitgliedsstaaten die Modalitäten der Ausübung eines Widerspruchs- bzw. Rücktrittsrechts im Einzelnen regeln können.
Die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts und der Sinn und Zweck des Widerspruchsrechts seien, so der BGH zutreffend, nicht berührt, wenn der Versicherungsnehmer durch sein über die übliche Vertragsabwicklung hinausgehendes Verhalten bei dem Versicherer den Eindruck erweckt habe, unabhängig von einem Vertragslösungsrecht den Vertrag unbedingt fortsetzen zu wollen. Mit Blick auf die hinreichende Bestimmung des mit den Lebensversicherungsrichtlinien verfolgten Informationszwecks durch die Rechtsprechung des EuGH bedürfe es keiner weitergehenden Klärung durch eine Vorlage.
Mit seiner Entscheidung räumt der Senat die aufgrund des EuGH-Urteils vom 9.9.2021 - C-33/20 u.a. und auch seiner Entscheidung vom 15.3.2023 - IV ZR 40/21 zwischenzeitlich aufgekommenen Zweifel an der Vereinbarkeit des nationalen Einwands von Treu und Glauben mit unionsrechtlichen Vorgaben im Bereich der Lebensversicherung endgültig aus und bestätigt damit seine sowie die vorherrschende Rechtsprechung zum Verwirkungseinwand auch im Falle einer unzureichenden Belehrung (z.B. in Abtretungsfällen).
Betroffenen Versicherern steht damit auch im Falle nicht ordnungsgemäßer Belehrungen oder Pflichtinformationen weiterhin der aus Treu und Glauben abgeleitete Verwirkungseinwand zu.
Ansprechpartner
RA Dr. Tobias Britz, Köln
tobias.britz@bld.de
RA Tim Brauer, Köln
tim.brauer@bld.de
In Verbindung stehende Entscheidungen
BGH, Urteil vom 15.2.2023 - IV ZR 353/21
Keine EuGH-Vorlage zur Anwendung der Grundsätze rechtsmissbräuchlichen Verhaltens (Verwirkung) bei einem "ewigen" Widerspruchsrecht nach § 5a VVG a.F. (mit BLD-Anmerkung)
BGH, Urteil vom 19.7.2023 - IV ZR 268/21