Ist das Gericht aufgrund des Unfallmechanismus (Heckauffahrunfall) und des Beschädigungsumfangs im Heck- und Kofferraumklappenbereich in der Lage, selbst einschätzen zu können, dass der Unfall grundsätzlich geeignet war, sowohl eine HWS-Distorsion als auch Verspannungen im Bereich der Schulter- und Nackenmuskulatur zu begründen und hat der medizinische Sachverständige sowohl in seinem Gutachten als auch in der persönlichen Anhörung ausgeführt, dass die Klägerin unfallbedingt eine HWS-Distorsion mittleren Grades erlitten habe, ist kein unfallanalytisches-biomechanisches Sachverständigengutachten einzuholen.
Anmerkung
Obgleich im vorliegenden Fall streitig war, ob sich die Klägerin durch den Unfall eine HWS-Distorsion mit einer Arbeitsunfähigkeit von sechs Monaten, ständigen Nacken- und Kopfschmerzen, Kribbelparästhesien im linken Arm und eine Bandscheibenprotrusion zugezogen hat, teilt das OLG Brandenburg vorliegend die Auffassung des LG Frankfurt/O., wonach ein unfallanalytisches-biomechanisches Sachverständigengutachten nicht einzuholen war. Der Senat meinte aufgrund des Unfallmechanismus (Heckauffahrunfall) und des Beschädigungsumfangs im Heck- und Kofferraumklappenbereich einschätzen zu können, dass der Unfall grundsätzlich geeignet war, eine HWS-Distorsion als auch Verspannungen im Bereich der Schulter- und Nackenmuskulatur zu begründen. Ferner habe der medizinische Sachverständige sowohl in seinem Gutachten als auch in der persönlichen Anhörung ausgeführt, dass die Klägerin unfallbedingt eine HWS-Distorsion mittleren Grades erlitten habe.
Die Klagepartei hat keinen Beweisantrag auf Einholung eines unfallanalytisch-biomechanischen Sachverständigengutachtens gestellt. Ob die Beklagte im Rahmen des Gegenbeweises ein unfallanalytisches-biomechanisches Gutachten angeboten hat, lässt sich den Entscheidungsgründen nicht entnehmen. Der Senat stellt auf die Rechtsprechung des BGH in der Entscheidung vom 28.1.2003 – VI ZR 139/02 ab, wonach stets die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen seien, einer schematischen Harmlosigkeitsgrenze eine Absage erteilt wird und die Kausalitätsfrage nicht allein von der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung abhänge, sondern von mehreren Faktoren. Deshalb habe im vorliegenden Fall kein unfallanalytisches-biomechanisches Gutachten erholt werden müssen.
Zwar hat der BGH in seinem Urteil vom 28.1.2003 – VI ZR 139/02 es gebilligt, dass das Berufungsgericht ein von der Beklagtenseite beantragtes biomechanisches Gutachten zur kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung nicht eingeholt hat. Der BGH bekräftigte aber noch einmal seine Rechtsprechung, wonach nur die haftungsbegründende Kausalität nach § 286 ZPO voll bewiesen werden müsse. Entscheidend ist hierbei die tatrichterliche Überzeugungsbildung. Diese Beweiswürdigung des Tatrichters unterliegt nur in gewissem Rahmen der Überprüfungskompetenz des BGH. Der BGH kann im Rahmen der Revision nur prüfen, ob die Beweiswürdigung des Tatrichters in sich widersprüchlich ist, den Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen zuwiderläuft oder Teile des Beweisergebnisses ungewürdigt lässt.
Aus der Entscheidung des BGH vom 28.1.2003, dass der medizinische Sachverständige sich alleine auf die Feststellungen der erstbehandelnden Ärzte stützen kann, folgt aber nicht, dass biomechanische Gutachten unverzichtbar sind. Die biomechanische Beurteilung baut die Brücke zwischen den vom Unfallanalytiker berechneten Fahrzeugwerten und der medizinischen Begutachtung, die die ärztlich dokumentierten subjektiven Beschwerden und objektiven Befunde (klinische und bildgebende Untersuchungen etc.) zum Gegenstand hat (vgl. OLG München, Urteil vom 28.7.2006 – 10 U 1684/06). Der medizinischen Begutachtung kommt rechtlich die sachverständige Letztentscheidung zu.
Erforderlich ist bei bestrittenen Verletzungen und bestrittener Kausalität zumindest im Wege des Gegenbeweises die Einholung eines unfallanalytisch-biomechanischen und sodann medizinischen Sachverständigengutachtens zu beantragen. Es muss zunächst der Unfallhergang geklärt werden und nach dieser Unfallanalyse hat die biomechanische Begutachtung zu erfolgen. Erst dann kann der medizinische Sachverständige zum Zuge kommen, um endgültig festzustellen, welche Verletzungen überhaupt vorlagen und ob diese Verletzungen auch auf den Unfall zurückzuführen sind. Wenn das Gericht diesem Beweisantrag nicht nachgeht, liegt eine unvollständige Tatsachenfeststellung und damit ein Berufungsgrund nach §§ 513, 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO vor. Das unberechtigte Übergehen eines Beweisantrags stellt einen Verstoß gegen die Pflicht zur Erschöpfung der Beweismittel als Ausfluss der Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG dar und begründet, da es sich bei dem Gebot der Ausschöpfung der angebotenen Beweise um das Kernstück des Zivilprozesses handelt, einen wesentlichen Verfahrensmangel.
Ansprechpartnerin
RAin Sibille Bucka, München
sibille.bucka@bld.de
Keine Notwendigkeit zur Einholung eines unfallanalytischen-biomechanischen Gutachtens (mit BLD-Anmerkung)
OLG Brandenburg, Beschluss vom 20.10.2022 - 12 U 159/22