1. Grundsätzlich ist es die Aufgabe des Versicherungsnehmers, sich in eigener Verantwortung über die zu versichernden Risiken klar zu werden und über den hierfür in Betracht kommenden Versicherungsschutz zu informieren. Aufklärungs- und/oder Beratungspflichten entstehen für Versicherungsvermittler lediglich „anlassbezogen“. Dementsprechend beschränken sich die Pflichten des Versicherungsvermittlers grundsätzlich auf den vom Kunden genannten Versicherungsbedarf, also auf das dargestellte Risiko, um dessen Absicherung es geht, sowie die damit zusammenhängenden und dem Versicherungsvermittler erkennbaren Gefahren. Andernfalls bestünden nahezu grenzenlos Aufklärungs- und Beratungspflichten, die zudem auch nicht in einem angemessenen Verhältnis zur Vergütung des Versicherungsvermittlers stünden.
2. Der durch eine Beratungspflichtverletzung entstandene Schadensersatzanspruch unterliegt der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren (§ 195 BGB). Für den Verjährungsbeginn bei Schadensersatzansprüchen bedarf es der Kenntnis von der Person des Schädigers, von der Pflichtverletzung oder einer gleichstehenden Handlung, vom Eintritt des Schadens und der Kenntnis von der eigenen Schadenbetroffenheit. Unerheblich ist demgegenüber, ob der Geschädigte die Rechtswidrigkeit des Geschehens, das Verschulden des Schädigers und/oder den maßgeblichen Kausalverlauf richtig einschätzt.
3. Für Schadensersatzansprüche gilt der Grundsatz der Schadeneinheit. Der aus dem behaupteten Beratungsfehler dem Geschädigten erwachsene Schaden ist als einheitliches Ganzes aufzufassen. Daher läuft für den Anspruch auf Ersatz dieses Schadens einschließlich aller weiterer adäquat verursachter, zurechenbarer oder voraussehbarer Nachteile eine einheitliche Verjährungsfrist, sobald irgendein Teilschaden entstanden ist. Ist im Falle fehlerhafter Aufklärung und Beratung bereits die Eingehung einer Verbindlichkeit der Schaden, entsteht der Anspruch bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses.
4. Grob fahrlässig handelt der Gläubiger, wenn seine Unkenntnis darauf beruht, dass er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt und auch ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen. Insbesondere liegt eine grobe Fahrlässigkeit dann vor, wenn der Geschädigte, der sich die Kenntnis in zumutbarer Weise ohne nennenswerte Mühe beschaffen könnte, die auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit nicht
ausnutzt.
5. Kann der Versicherungsnehmer die "Nachteile" der Rürup-Rente in Form der fehlenden Kündbarkeit und fehlenden Kapitalisierbarkeit ohne größeren Aufwand aus dem Versicherungsschein erkennen, ist die fehlende Kenntnisnahme dieser Informationen als grob fahrlässig im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB zu würdigen. Die Lektüre des Versicherungsscheins ist im ureigenen Interesse des Versicherungsnehmer geboten. Die im Versicherungsschein leicht zugänglichen Informationen unbeachtet zu lassen, stellt ein erhebliches Verschulden des Versicherungsnehmers gegen sich selbst dar.
6. Die Wertung der Nichtzurkenntnisnahme der Informationen aus dem Versicherungsschein als grob fahrlässig steht nicht in Widerspruch zu der einschlägigen Judikatur des BGH und anderer OLG in Prospekthaftungs-, Anlageberatungs- und Versicherungsvermittlungsfällen. Eine grob fahrlässige Unkenntnis kann in solchen Fällen grundsätzlich nicht schon dann angenommen werden, wenn sich die für die Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände einer Aufklärungs- oder Beratungspflichtverletzung notwendigen Informationen aus dem Anlageprospekt, den Produktinformationen und/oder den Versicherungsbedingungen ergeben. Anders als bei der Lektüre eines umfassenden, detailreichen Klausel- oder Erläuterungswerkes kann vom Versicherungsnehmer ganz generell erwartet werden, dass dieser die im Versicherungsschein zusammengefassten maßgeblichen Umstände des Versicherungsprodukts zur Kenntnis genommen und gelesen hat.
7. Die Beratungs- und Dokumentationsverpflichtung eines Versicherers wird nicht entwertet oder gar konterkariert. Es wird gerade nicht verlangt, dass ein Versicherungsnehmer im Nachgang aus vielzähligen und vielseitigen Vertragswerken erkennt, dass seine Vorstellungen möglicherweise nicht zutreffend im erworbenen Versicherungsprodukt abgebildet sind. Allerdings darf und muss von einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer erwartet werden, dass der in der Police zusammengefasste Vertragstext lesend zur Kenntnis genommen und im Fall entstehender Zweifel nochmals hinterfragt wird.
Anmerkung
Im Einklang mit der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung hat der Senat die Nichtzurkenntnisnahme der im Versicherungsschein leicht ersichtlichen Produkteigenschaften als grob fahrlässig im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB gewertet (so auch: OLG Hamm, Beschluss vom 6.7.2023 - 20 U 342/22; OLG Frankfurt/M., Beschluss vom 28.1.2022 - 3 U 288/21; OLG Karlsruhe, Urteil vom 3.3.2015 - 17 U 8/14; OLG Frankfurt/M., Beschluss vom 10.8.2020 - 3 U 28/20, bestätigt vom BGH durch Nichtannahmebeschluss vom 9.6.2021 - IV ZR 222/20). Das OLG Zweibrücken unterstreicht damit die vom BGH entwickelte sog. "Leseobliegenheit" (BGH, Urteil vom 20.6.1963 – II ZR 199/61; BGH, Urteil vom 23.2.2005 – IV ZR 273/03) und konkretisiert die sich daraus ergebenden Anforderungen des Versicherungsnehmers bei Abschluss eines Basisrentenversicherungsvertrages (sog. Rürup-Rente).
Gerade im Zusammenhang mit etwaigen Beratungspflichtverletzungen bei Basisrentenversicherungsverträgen ist immer wieder die Frage Gegenstand von zahlreichen Rechtsstreitigkeiten, ob der Versicherungsvermittler über die fehlende Kündbarkeit und Kapitalisierbarkeit ordnungsgemäß aufgeklärt hat. Ist die dem Versicherer und Versicherungsvermittler obliegende Beratungsdokumentation nicht erfolgt bzw. ergeben sich die erforderlichen Hinweise über die Besonderheiten der Basisrentenversicherung nicht aus dem Beratungsprotokoll, kommt es nach der einschlägigen Rechtsprechung zu einer Beweislastumkehr zu Lasten des Versicherers (BGH, Urteil vom 13.11.2014 - III ZR 544/13). Kann der Versicherer diesen Nachweis nicht erbringen, wird bei der Frage der Kausalität vermutet, dass der Versicherungsnehmer den Versicherungsvertrag bei korrekter Beratung nicht geschlossen hätte und im Ergebnis ein Schaden in Höhe der gezahlten Versicherungsprämien bejaht.
Machen die Versicherungsnehmer erst mehrere Jahre nach Vertragsschluss Schadensersatzansprüche geltend, kann der Versicherer die Einrede der Verjährung erheben, wenn die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren abgelaufen ist. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die im Rahmen des § 199 Abs. 1 BGB erforderliche Kenntnis bzw. grob fahrlässige Unkenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen zu bejahen ist, wenn die Produkteigenschaften der Basisrentenversicherung klar und verständlich in dem Versicherungsschein und den sonstigen Vertragsunterlagen aufgeführt sind. Überträgt man die vom BGH entwickelte "Leseobliegenheit" des Versicherungsnehmers auf solche Fälle, ist nach zutreffender Auffassung die für den Beginn der Verjährungsfrist erforderliche grobe Fahrlässigkeit zu bejahen, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsschein nicht gelesen hat.
Die Klägervertreter berufen sich in diesem Zusammenhang häufig auf die Judikatur des BGH und anderer OLG in Prospekthaftungs-, Anlageberatungs- und Versicherungsvermittlungsfällen. Eine grob fahrlässige Unkenntnis wird in solchen Fällen mit der Erwägung abgelehnt, dass dem Anleger nicht die lückenlose Lektüre der einzelnen umfassenden, detailreichen Klausel- oder Erläuterungswerke zumutbar ist, was aber im Rahmen der Prospekthaftungs- und Anlageberatungsfälle zur Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände oftmals erforderlich ist. Das OLG Zweibrücken hat dem mit überzeugenden Argumenten eine Absage erteilt und klargestellt, dass die Rechtsprechung in Prospekthaftungs-, Anlageberatungs- und Versicherungsvermittlungsfällen insoweit nicht übertragbar ist. Zutreffend begründet der Senat im Einzelnen, dass die Lektüre eines kurzen und übersichtlichen Versicherungsscheins dem Versicherungsnehmer zumutbar und in seinem eigenen Interesse auch geboten ist.
Der Kläger hat (fristwahrend) Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Abzuwarten bleibt, ob der Kläger die Nichtzulassungsbeschwerde durchführen und wie sich der BGH in diesem Fall positionieren wird.
Ansprechpartner
RA Dr. Martin Schaaf, Köln
martin.schaaf@bld.de
RA Jens Niklas Vogel, Köln
jens.niklas.vogel@bld.de
In Verbindung stehende Entscheidungen
LG Konstanz, Urteil vom 1.9.2022 - B 10 O 11/21
LG Paderborn, Urteil vom 17.11.2021 - 3 O 167/21